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Die Silberne Halbkugel,

Bürgerinitiative „Viadukt e. V.“
2020 DNK Silberne Halbkugel Bürgerinitiative Viadukt e. V.

Bürgerinitiative „Viadukt e. V.“ © Andreas Seidel, Chemnitz

Würdigung

Was tun mit einer alten und deshalb sanierungsbedürftigen Brücke? Die übliche Antwort der Deutschen Bahn AG lautet: Abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Ausgerechnet ein Unternehmen, das sich vollständig im Besitz der öffentlichen Hand befindet, gibt damit ein denkbar schlechtes Vorbild ab für den Umgang mit historisch wertvoller Bausubstanz.

In Chemnitz wollten Bürger*innen dies nicht hinnehmen. Sie wehrten sich, als das Viadukt Beckerbrücke (das auch als „Chemnitztalviadukt“ bezeichnet wird) abgebrochen werden sollte: Eine rund 275 Meter lange Brückenanlage über die Annaberger Straße, den Chemnitzfluss und die Beckerstraße am Südrand des Stadtzentrums. Die Kombination aus Fachwerkbögen und Balkenbrücken, filigran und sorgfältig gestaltet, entstand am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Werk des Ingenieurs Claus Köpcke, von dem auch die Loschwitzer Brücke in Dresden stammt, besser bekannt als „Blaues Wunder“.

Am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts wurde das Chemnitzer Viadukt, das ursprünglich vier Gleise trug, unter Denkmalschutz gestellt; das sächsische Landesamt für Denkmalpflege bewertet die Anlage als eines der herausragenden technischen Denkmale des Freistaates. Sie prägt das Stadtbild und ist ein wichtiges Zeugnis der Chemnitzer Geschichte.

Nichtsdestoweniger gab es schon damals Abrisspläne. Zunächst wegen Finanzierungsproblemen zurückgestellt, wurden sie 2013 wieder aufgegriffen. Dies rief Bürger*innen auf den Plan, die eine Initiative gründeten, aus welcher schließlich der Viadukt e. V. hervorging. Mit einer ebenso umfang- wie einfallsreichen Öffentlichkeitsarbeit wurde das Bewusstsein für die Bedeutung der Brückenanlage geschärft. Zu den Aktionen gehörten nicht nur Bürgerforen, Vorträge, Führungen oder gemeinsam mit anderen Initiativen durchgeführte Unterschriftensammlungen, sondern auch die Produktion eines Kurzfilms, ein Kinderkunstwettbewerb, mehrere Dampfloküberfahrten bei Tag und Nacht oder der Aufbau eines Kerzenmeers unter dem Viadukt.

Fachleute für die Erhaltung historischer Brücken sowie Denkmalschutzorganisationen bat man erfolgreich um Expertise und Unterstützung, die Sanierungsfähigkeit konnte durch Untersuchungen bestätigt, ein Sanierungs- und nicht zuletzt ein Finanzierungskonzept erarbeitet werden. Politiker*innen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene wurden angesprochen und auf die Seite der Freunde des historischen Viadukts gebracht.

Zwar beantragte die Deutsche Bahn AG 2016 dennoch den Abriss, doch im Falle des Chemnitzer Viadukts gelang es, das Eisenbahnbundesamt, das über den Antrag zu entscheiden hatte, davon zu überzeugen, dass die Brücke nicht nur saniert werden kann (was inzwischen auch die Deutsche Bahn AG hatte zugegeben müssen), sondern sie auch der besonderen Mühe wert ist, der es bedarf, um die Anlage zu erhalten und für die weitere Nutzung zu ertüchtigen.

Denn dies sind die Gründe, weshalb das Viadukt verschwinden sollte: Bei der Modernisierung der Hauptstrecke Dresden-Werdau, zu der es gehört, sollen alle Brücken erneuert werden. Die Neubauten können schematisch erfolgen, was weniger Arbeit erfordert als ein individuelles, an das jeweilige Denkmal, seinen Erhaltungszustand, seine Ästhetik und seine Möglichkeiten zur Ertüchtigung angepasstes Vorgehen, wie es das Eisenbahnbundesamt für das Chemnitzer Viadukt 2018 verfügte. Nicht zuletzt muss die Deutsche Bahn AG Sanierungen in der Regel aus ihrem eigenen Etat bezahlen, derweil sie für Neubauten Fördermittel erhält. Auf diese Weise trägt die öffentliche Hand seit Jahrzehnten dazu bei, dass geschichtlich und künstlerisch bedeutende Brücken überall in Deutschland verschwinden.

Denn nicht überall treffen die Abrisspläne auf Bürger*innen, die sich mit so viel Mut, Kreativität und Sachverstand gegen die Vernichtung historischer Bausubstanz und Ingenieurskunst wehren wie in Chemnitz. Das Engagement des Viadukt e. V. und insbesondere dessen Erfolg sind leider eine Ausnahme, die aber unbedingt allerorten in Deutschland als Vorbild dienen sollte.

Selbstdarstellung

Viadukt – Nutzung des baulichen Erbes der Industrialisierung e. V., Chemnitz

Das Erscheinungsbild der Industriestadt Chemnitz war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geprägt von Fabriken, großen und repräsentativen Gebäuden der Gründerzeit sowie einem schrittweisen Umbau der städtischen Infrastruktur hin zu einer nach damaligen Gesichtspunkten modernen Stadtanlage. Auch die Eisenbahnanlagen, die am Rande des Stadtzentrums mitten durch die Stadt führten hielten um 1900 den Anforderungen nicht mehr stand und wurden im gesamten Innenstadtbereich erneuert. Eindrucksvollstes Bauwerk des nun viergleisig ausgebauten Bahnbogens auf der Strecke Dresden – Werdau war der 270 m lange Brückenneubau über die Annaberger Straße, Beckerstraße und den Chemnitz-Fluss. Das markante Stahlbauwerk war zur Erbauungszeit zwischen 1901 und 1909 bereits ein Aushängeschild des modernen Bauens in Chemnitz.

Als Folge der Zerstörungen am Ende des 2. Weltkrieges und des anschließenden Stadtumbaus nach den Prinzipien einer sozialistischen Großstadt ist das Stadtbild aus der Blütezeit der Industrialisierung von Chemnitz heute unwiederbringlich verloren. Nur wenige stadtbildprägende Bauwerke haben sich bis in die Gegenwart erhalten, darunter das Chemnitzer Viadukt.

Während der gesamten DDR-Zeit und auch nach 1990 gab es in der Stadt wenig Bewusstsein für die Bedeutung der baulichen Zeugnisse der Industrialisierung. Das änderte sich erst nach der Jahrtausendwende, als infolge eines großen Wohnungsleerstandes weitere denkmalgeschützte Häuser erst dem Verfall preisgegeben und später abgerissen wurden. Zugleich stieg auch das Interesse in der Bevölkerung an den industriellen Zeugnissen des Gründerzeit-Booms sowie der wenigen erhaltenen Bauten der Moderne in Chemnitz.

Bereits 1996 wurde der Viadukt unter Denkmalschutz gestellt, aber dennoch wurden von der Deutschen Bahn bald Pläne für einen Ersatzneubau (d.h. Abriss des Denkmals) vorangetrieben. Als diese Pläne 2013 konkretere Gestalt annahmen wuchs der Widerstand gegen den Abriss dieses Industrie- und Baudenkmals. Die Initiativen Stadtforum Chemnitz und Stadtbild Chemnitz hatten eine Online-Petition gegen den Abriss gestartet und die späteren Mitglieder des Vereins Viadukt e. V. führten erste Veranstaltungen zur Unterstützung dieser Proteste durch. Schnell wurde aber klar, dass angesichts eines bevorstehenden Planfeststellungsverfahrens eine juristische Person in Form eines Vereins zweckmäßig wäre, in dem die Kräfte für den Erhalt des Viaduktes gebündelt werden konnten.

Parallel zur Gründung des kleinen Viadukt-Vereins begannen verschiedene Aktivitäten die einerseits die Bevölkerung gegen den Abriss mobilisieren sollten. Andererseits war es immer besonderes Anliegen der Akteure, Brückenbau-Fachleute für den Erhalt des Viaduktes und für die Unterstützung des Vereins zu gewinnen sowie mit eigener Sachkunde ein kompetenter Gesprächspartner zu sein. Drittes Standbein der Vereinstätigkeit war schließlich eine intensive Lobbyarbeit auf allen Ebenen der Politik – vom Stadtrat bis zum Bundestag. Zugleich hat sich der Verein auch als konstruktiver Gesprächspartner gegenüber der Bahn angeboten.

In den Jahren zwischen 2014 und 2018 – als im Ergebnis des Planfeststellungsverfahrens die Bahn verpflichtet wurde, ihre Planung zu ändern und eine Lösung zur Ertüchtigung der Brücke vorzulegen – hat der Verein zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt. Darunter einen Kinderkunst-Wettbewerb mit anschließender Ausstellung der vielseitigen Einreichungen, zwei Ausstellungen zeitgenössische Künstler, die das Anliegen des Vereins unterstützen, Feste und Beleuchtungsaktionen am Viadukt. Bei zahlreichen Gelegenheiten wurden von Vereinsmitgliedern Fachvorträge zum Chemnitzer Viadukt gehalten, die die Initiativen auch überregional bekannt gemacht haben.

Weiterhin lenkte der Viadukt e. V. die Aufmerksamkeit auch auf die Situation der anderen Baudenkmäler des Chemnitzer Bahnbogens und initiierte die Unterschutzstellung der Anlage als Denkmalensemble (Sachgesamtheit). Denn im Zuge des Ausbaus der Strecke waren weitere geschützte Brücken vom Abriss bedroht, die inzwischen weitestgehend verloren sind. Die Bemühungen um den Erhalt des äußeren Eindruckes am denkmalgeschützten Südbahnhof halten gegenwärtig noch an.

Eine Bundestagspetition im Jahre 2017 hatte das Ziel, die Deutsche Bahn grundsätzlich zu einem stärkeren Engagement für ihre Baudenkmäler zu verpflichten. 2018 initiierte die Deutsche Bahn einen Fachbeirat, der die Planänderungen zur Erhaltung des Viaduktes begleitete und in dem auch der Viadukt e. V. vertreten war. In den letzten beiden Jahren hat sich ein weiteres Thema in der Vereinsarbeit etabliert. Das Umfeld des Chemnitzer Viaduktes ist gegenwärtig noch nicht so attraktiv, wie es dem Rang des Denkmals entsprechen sollte. Hier sind stadtplanerische Gestaltungsansätze genauso gefragt wie Nutzungskonzepte für die Freiflächen. Der Viadukt e. V. hat diese Problematik erfolgreich in die Bewerbung der Stadt Chemnitz für die Kulturhauptstadt 2025 eingebracht.