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Die Silberne Halbkugel,

Studentendorf Schlachtensee eG
2020 DNK Silberne Halbkugel Studentendorf Schlachtensee eG

Gruppenfoto © Mila Hacke Architekturfotografie

Würdigung

Das 1959 eröffnete Studentendorf Schlachtensee steht in der Tradition des experimentellen Bauens der Moderne. Die herausragende Gesamtanlage der Architekten Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch mit der Freiraumgestaltung von Hermann Mattern ist ein herausragendes Zeugnis der Architektur-, Zeit- und Sozialgeschichte West-Berlins in der Nachkriegszeit. Die Vereinigten Staaten von Amerika schenkten der eingeschlossenen Stadt Gebäude, die in ihren Funktionen und Erscheinungsbildern demonstrative Gegenentwürfe zur totalitären Architektur des NS und des Stalinismus darstellten und den Rahmen für eine demokratische Entwicklung der Jugend geben sollten.

Dass 2019 die Feier des 60. Geburtstages des Studentendorfes im renovierten Theatersaal des Gemeinschaftshauses möglich war, ist Ergebnis gleich mehrerer Wunder. Denn zweimal schon schien der Abriss der Wohnanlage mit ihrer hohen Denkmalbedeutung schon besiegelt: Ende der 1980er Jahre, da durch einen Instandhaltungsrückstau die filigranen Konstruktionen enorme Schäden hatten sowie 1999 im beginnenden Furor der Berliner Immobilienspekulation.
Die Abrisspläne wurden durch konstruktiven Widerstand der dort lebenden Studierenden und vieler Unterstützender wie z.B. Hardt-Waltherr Hämer verhindert. Sie gründeten 2002 eine Genossenschaft, die 2003 unter großen Schwierigkeiten das Studentendorf Schlachtensee vom Land Berlin erwarb. Seit 2006 stemmt die Genossenschaft die – bautechnisch und ökonomisch komplexe – denkmalgerechte Instandsetzung und Modernisierung. Fördermittel von Bund und Land, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und anderen halfen dabei, dass inzwischen 18 von 24 denkmalgeschützten Wohn- und Gemeinschaftsbauten sowie große Bereiche des Landschaftsgartens grundlegend oder teilweise instandgesetzt wurden.
Jetzt leben hier wieder über 900 Studierende aus allen Teilen der Welt, lernen voneinander und werden ihre Erfahrungen mit Demokratie und Partizipation in die Welt tragen, so wie viele Generationen vor ihnen auch. Außerdem vernetzte sich die Genossenschaft aktiv in die Wissenschafts- und Hochschullandschaft sowie in das Genossenschaftswesen.

Das Wunder ist Ergebnis von Mut, nicht erlahmendem konstruktiven Widerstand, bürgerschaftlichem Engagement für die Werte der Demokratie, der Baukultur und für eine Erinnerungskultur an das Nachkriegs-West-Berlin. Deshalb – und nicht zuletzt aufgrund zwanzig langer Jahre harter Arbeit – hat die Studentendorf Schlachtensee eG den Deutschen Preis für Denkmalschutz verdient.

Selbstdarstellung

Zwischen internationaler Bedeutung und Erhaltungskampf:
Das Experiment Studentendorf

Als Eleanor Lansing Dulles, US-Diplomatin und vom Office of German Affairs entsandt, mit dem gerade frisch ins Amt gewählten Regierenden Bürgermeister Willy Brandt am 10. Oktober 1957 den Grundstein für das Studentendorf der Freien Universität legte, waren sich beide ohne Zweifel der Bedeutung dieses letzten Geschenks der amerikanischen Regierung an das demokratische Deutschland und die freie Stadt Berlin bewusst. Sie konnten aber in diesem feierlichen Moment noch nicht die bewegte Geschichte vorausahnen, die das Studentendorf in seinen sechzig Jahren nehmen sollte. Auch dass das Studentendorf einmal Zeugnis von weltgeschichtlicher Bedeutung sein und als Architekturikone des demokratischen Bauens internationale Anerkennung erfahren würde, war im Jahr der INTERBAU 57 noch niemandem bewusst. Die Welt schaute in diesem Jahr 1957 wieder einmal auf Berlin und nahm Anteil am unbedingten Willen, Schaufenster der westlichen Welt zu werden.

Die jungen Frauen und Männer, nunmehr Bürgerinnen und Bürger des Studentendorfs, die im November und Dezember 1959 ihre neuen Häuser bezogen, waren sich dieses außergewöhnlichen Projektes im Berliner Südwesten bewusst und genossen den unglaublichen Komfort, den die 18 Wohnpavillons des ersten Bauabschnittes ihnen boten. Eigener Wohnraum, Teeküchen und Bäder mit fließend warmem Wasser waren auch 1959 noch nicht Wohnstandard für Studierende. Die Erstbewohner*innen aus allen Teilen Deutschlands – auch der östlichen Regionen – und allen Kontinenten der Welt durften sich privilegiert fühlen, in diesen ersten Studentendorfjahren. Allerdings musste die erste Generation noch auf das Herz im Zentrum der Siedlung warten: Baukostensteigerungen hatten den Bau des Gemeinschaftshauses im ersten Bauabschnitt unmöglich gemacht, und erst schwierige und höchst diplomatische Verhandlungen mit der amerikanischen Regierung über eine Nachfinanzierung machten den Bau möglich. Auch die Wohnhäuser 12 und 13 und das Haus des Akademischen Direktors entstanden in dieser Phase. Erst jetzt, 1964, war das Experiment baulich vollendet und das „Kibbuzdorf“, wie Gunnar Klack es in seinem Beitrag nennt, mit allen wichtigen Funktionen ausgestattet.

Die Architekten Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch und der Gartengestalter Hermann Mattern haben mit ihrem Entwurf nicht nur eine Stadtlandschaft ganz im scharounschen Sinne gebaut, auch der Garten der Aufklärung konnte sinnstiftender nicht realisiert werden als hier in dieser Siedlung, die in ihren Spitzenzeiten über 1 000 Menschen eine Wohnstatt bot. Aber auch das Prinzip des fließenden Raumes, das der letzte Bauhausdirektor Ludwig Mies van der Rohe auf das Feinste formte, wie auch die organische Stadtbaukunst und das faszinierende Zusammenspiel zwischen Natur und Architektur findet auf wunderschöne Weise im Studentendorf ihre Umsetzung. Hermann Fehling, der mit seiner ersten Mensa der Freien Universität einiges Aufsehen im Bauen für die Wissenschaft erregt hatte und sich zuvor schon mit der Neugestaltung von Oskar Kaufmanns Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sowie des Steglitzer Titania-Palastes einen Namen gemacht hatte, entwickelte gemeinsam mit Daniel Gogel und Peter Pfankuch eine studentische Wohnsiedlung der Moderne, wie es sie weltweit noch nie gegeben hatte. Zwar war das Wohnhaus der Meisterschüler in Dessau, im Volksmund auch „Prellerhaus“ genannt, schon vierzig Jahre zuvor von Walter Gropius errichtet worden und auch die Cité universitaire in Paris mit Nationenhäusern und Institutsbauten seit den 1920er-Jahren ein geachteter internationaler Wohncampus, aber einen so stringent an den wichtigen Architekturprinzipien des 20. Jahrhunderts ausgerichteten studentischen Wohncampus gab es bis dahin noch nicht. Auch das erste Studentendorf in Aachen, ebenfalls von den USA finanziert und seit 1953 in Betrieb, ist in Architektur und Konzeption noch nicht so durchdacht wie sein Nachfolger in Nikolassee.

Aber nicht nur das Architekturkonzept, auch das Gemeinschaftsmodell spielt eine identitätsstiftende und wesentliche Rolle in der Gestaltung des Studentendorfes. „Demokratie ist als politische Lebensweise von ihrem Ansatz her auf den mündigen Bürger angewiesen“, sagt Adolf Arndt in seinem Vortrag „Demokratie als Bauherr“, und „alles in ihr, auch das Bauen, [muss] darauf angelegt sein […], dem Menschen zu seiner Mündigkeit zu verhelfen und ihn sich in dieser Welt bewusst werden zu lassen, dass er politischer Mensch ist, der zu seinem Teil, wenn auch oft nur bescheidenen Teil, geschichtliche Mitverantwortung trägt“.

Im Studentendorf der Freien Universität stand der mündige Mensch im Zentrum des Projektes, er zeigt sich an den nicht axialen und fast schon verspielten Fassaden der Wohnhäuser, es folgt einem bahnbrechenden Farbkonzept im Inneren der Häuser und einer höchst individuellen Gestaltung und ihm wurde ein kristalliner Putz als Schutzmantel umgelegt, der im Sonnenschein weithin wie ein kostbarer Diamant leuchtet, und den es zu beschützen gilt: Hermann Mattern umkränzte das Studentendorf mit einem Dornenwall, um die noch junge Demokratie vor äußeren Feinden zu beschützen und gab ihr mit der griechischen Agora im Zentrum des Dorfes die Bühne zum demokratischen Dialog.

All das geriet mit den Wirren des Jahres 1968 in Vergessenheit oder erregte den Zorn der revoltierenden Studentenschaft: Die Stifterplakette wurde abmontiert und das paternalistische Fürsorgemodell „Studentendorf“ für beendet erklärt. Die Geschlechtertrennung wurde in einer konzertierten Aktion durch den mündigen Bürger aufgehoben und die Ketten überholter Moralvorstellungen wurden gesprengt. Die Stiftung wurde durch einen Mietstreik in die Knie gezwungen und das Studentenwerk mit der Bewirtschaftung fortan beauftragt. Die einmalige und filigrane Architektur mit ihren großen Verweisen auf Scharoun, Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Marcel Breuer und Le Corbusier verfiel, und das Geschenk der Amerikaner geriet in Vergessenheit. Zu Beginn der 1970er-Jahre erklärte man das Studentendorfprinzip ein für alle Mal für gescheitert und rief zugleich das Wohngemeinschaftsprinzip aus. Die Idee, aus Amerika kommend, begeisterte, und man wollte nun nicht mehr in Hausgemeinschaften leben, sondern individueller in kleineren Wohngemeinschaften mit größeren Küchen und privaten Räumen. Das renommierte Braunschweiger Architekturbüro Kraemer, Pfennig und Sieverts, seinerzeit das größte in der Bundesrepublik, nahm sich der neuen Experimentalbauaufgabe an und errichtete von 1973 bis 76 in Kooperation mit der Gewobag vier fünfgeschossige kompakte Wohnbauten für 352 neue Studentendörfler. Die Einwohnerzahl stieg um ein Drittel. Das „alte“ Dorf aber verfiel weiter und war in den 1980er-Jahren so marode, dass erstmals der Abriss drohte und Daniel Gogel einen neuen Entwurf für das gesamte Dorf zeichnete und dem neuerlichen Individualisierungsprozess folgend nunmehr eine reine Apartmentwohnanlage mit ersten Solarpanelen und Gründächern plante.

Die im Berliner Abgeordnetenhaus bestätigten Abrisspläne zerrissen die Bewohnerschaft, viele Studentendörfler zogen aus, aber auch Widerstand formierte sich und der erste Anti-Abriss-Kampf begann. Der Fall der Berliner Mauer machte den Plänen des Senats einen Strich durch die Rechnung, da andere Aufgaben im Rahmen des Zusammenwachsens der beiden Stadthälften nunmehr im Vordergrund standen. 1991 wurde das „Studentendorf Schlachtensee“, wie es nunmehr hieß, als Bau- und Gartendenkmal auf die Berliner Denkmalliste gesetzt und notdürftig, aber nur wenig behutsam repariert. Doch all das schützte das Studentendorf nicht: Ende der 1990er-Jahre war der „Wildwest-Circus“ erneut eröffnet und der Berliner Senat spekulierte mit allem, dessen er habhaft werden konnte. Das Prinzip der Daseinsfürsorge hatte keine Berechtigung mehr. Studentische Wohnplätze in der Nähe zu Berlins größter Universität wurden als entbehrlich erachtet – insbesondere dann, wenn sie auf wertvollem Grund und Boden lagen.

Und erneut leisteten die mündigen Bürger*innen Widerstand. Machten in der gesamten Stadt mobil, starteten Aktionen gegen das Spekulieren und forderten einen Stopp des Ausverkaufs der Stadt. Ein Freundeskreis um Hardt-Waltherr „Gustav“ Hämer, Karl-Friedrich-Schinkelringpreisträger 1989, gründete sich und 2002 die Genossenschaft Studentendorf Schlachtensee eG, der 2003 der Erwerb der denkmalgeschützten Wohnsiedlung gelang.

Die langersehnte bauliche Erneuerung begann 2006: Die Bundesregierung erhob die denkmalgeschützte Siedlung in den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals, indem sie das Projekt in ihr eigens hierfür geschaffenes Förderprogramm aufnahm. Zudem engagierten sich auch das Landesdenkmalamt und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit finanziellen Mitteln, und die Freie Universität Berlin stützte das Vorhaben mit einer Mietvorauszahlung für die Häuser 4 und 8, sodass im März 2009 die ersten erneuerten Häuser wiedereröffnet und die ursprünglichen Gestaltqualitäten des Dorfes nach einem dreißigjährigen Instandsetzungsrückstau der Welt gezeigt werden konnte.

Nicht weniger als 40 Millionen Euro werden durch die Studentendorf Schlachtensee eG verbaut sein, wenn die Erneuerung des Studentendorfs 2024 abgeschlossen ist. Mehr als 930 Menschen aus weit über einhundert Nationen werden dann, wie viele zehntausend andere vor ihnen auch, wieder im Studentendorf Schlachtensee leben und in gegenseitiger Achtung und Respekt voneinander lernen und die Welt fortan durch die Erfahrungen ihres Miteinanderlebens im Studentendorf bereichern.

Das Demokratieprojekt Studentendorf ist in seiner Geschichte oftmals für tot oder zumindest für überflüssig erklärt worden und sollte nach langer Verwahrlosung neu gebaut und dann schließlich abgerissen werden. Es wurde in zwei Anti-Abriss-Kämpfen von vielen Menschen gerettet und behauptet heute kraftvoll seinen Platz als internationaler Wohncampus und als gebautes Glücksversprechen für eine offene und freie demokratische Gesellschaft. Das 1964 eröffnete Haus 14, eine Stadtkrone der Demokratie, wird in den nächsten Jahren seinen Platz als bundesdeutsches Demokratiezentrum, Kultur- und Bildungsort im Berliner Südwesten und für die gesamte Region finden. Auch künftig werden sich junge Menschen aus aller Welt, ob als Studierende oder Geflüchtete, Künstler oder Kita-Kind sicher und auch wohl im Studentendorf fühlen und zu mündigen und selbstbewussten Menschen heranreifen, um die Welt stets ein wenig besser zu machen.

Die Auszeichnung des Deutschen Preises für Denkmalschutz ist auch eine Würdigung an dieses Demokratieprojekt und vor allem an seine mündige CIVITAS, die seit 30 Jahren um dessen Erhalt bemüht ist.